Hinweis:
Dieser Blogartikel ist älter als 5 Jahre – die genannten Inhalte sind eventuell überholt.
Agile Teams wollen kollaborativ zusammenarbeiten, ihr Wissen teilen und sich weiterentwickeln. Der Scrum Master verhilft dem Team dabei, den Wert der Arbeit zu maximieren – sagt der Scrum Guide. So weit, so gut. Ich habe im Januar bei inovex als Scrum Master angefangen und mich gefragt: Bin ich gut genug auf diese Aufgabe vorbereitet? Reicht es aus, wenn ich mit dem Team zusammen in diese Aufgabe hineinwachse? Oder sind etwa Scrum-Master-Checklisten zu Dos und Don’ts der Weg, den ich auf Biegen und Brechen verfolgen sollte? Checklisten abhaken und Biegen und Brechen – so verstehe ich meine Aufgabe als Scrum Master nicht. Ich möchte einen Weg im Team finden, gemeinsam ein gutes Produkt abzuliefern, aber zusätzlich auch auf die Erfahrung und das Feedback von anderen Scrum Mastern zurückgreifen. In der Psychologie gibt es dafür den Ansatz der Intervision. Hierbei tauschen sich Kolleg:innen bewusst zu Themen und Problemen aus und reflektieren ihre Arbeitsweisen und das eigene Vorgehen.
Bei inovex gefällt uns dieser Ansatz des voneinander lernen. Wir leben den Austausch zu agilen Themen, zur Scrum-Theorie und zu Herausforderungen in Projekten bereits in internen Brownbags und Lean-Coffee-Formaten – oder ganz informell im persönlichen Austausch.
Wir wollten etwas Neues ausprobieren, um die tägliche Arbeit eines Scrum Masters noch direkter zu erleben. Daher habe ich zusammen mit meiner Kollegin Sophie einen ersten Shadowing-Piloten für Scrum Master gestartet und sie vier Wochen in ihrem Team begleitet – remote. Beim Job Shadowing begleitet eine Person eine andere Person in ihrem Berufsalltag, um ihr über die Schulter zu schauen und den Job kennenzulernen.
Das Begleitprojekt
Sophie ist Agiler Coach und Scrum Master im inovex waipu.tv-Projekt, das wir gemeinsam mit der EXARING AG entwickeln.
waipu.tv ist ein Streaming-Dienst, der für Web, iOS, Android und Smart-TV verfügbar ist. Die Produktteams bei EXARING sind entsprechend ihrer Plattformen aufgestellt und haben jeweils eigene Scrum Master. Sophie ist sowohl in ihrem eigenen Team als auch teamübergreifend tätig und verbindet damit agile Themen und Abstimmungen über ihr Team hinweg. Die Produktentwicklung und -planung findet Feature-basiert und plattformübergreifend statt. Hier unterstützt sie teamübergreifend die Product Owner.
Das waipu.tv-Team arbeitet remote-first: Product Owner, Design Team, Scrum Master und die verschiedenen Entwicklungsteams sowohl bei EXARING als auch bei inovex sind quer über Deutschland verteilt.
Sophie (Hamburg) und ich (Köln) sind das ebenfalls, daher war für uns von Anfang an klar: Das Shadowing wird natürlich remote stattfinden.
Unsere Ziele
Während des Shadowings begleitete ich Sophie als Beobachterin und erlebte sie bei der Interaktion mit ihrem Team. Unser Ziel war es, dass ich Einblicke in die tägliche Arbeit eines erfahrenen Agilisten erhalte, wir verschiedene Situationen reflektieren und diskutieren, so dass ich die neu gewonnene Erfahrung mit in eigene Projekte nehmen kann. Ich konnte Sophie Feedback geben, sie bei ihren Aufgaben unterstützen und die Moderation von Meetings übernehmen. Da ich in dieser Zeit selbst kein Projekt begleitete, konnte ich mich komplett auf das Shadowing konzentrieren.
Der Tagesablauf
Unser Shadowing startete mit einer kurzen Einführung zur aktuellen Situation. Sophie gab mir einen Gesamtüberblick über das Produkt, die Teams und ihre aktuellen Aufgaben und Herausforderungen bei ihrer Arbeit im Sprint sowie in der langfristigen Produktplanung.
Unser Arbeitstag begann meistens mit einem kurzen Planning Was steht heute an? An welchen Meetings soll ich teilnehmen? Was müssen wir vorbereiten? Dafür trafen wir uns mit unserem Kaffee nicht im Meeting-Raum nebenan, sondern ganz virtuell im Google Meet.
Danach ging es weiter zum Daily eines Teams. Die Meetings innerhalb der EXARING-Teams finden remote mit Google Meet statt. Dadurch konnte ich über die Shadowing-Zeit hinweg an Meetings verschiedener Teams teilnehmen und mich austauschen, ohne vor Ort in München sein zu müssen.
Schnell spielte sich bei uns ein guter Über-die-Schulter-schauen-Modus ein: Wir trafen uns nach Meetings zur Reflexion, gaben Feedback und arbeiteten an den nächsten Todos – immer mit geteiltem Bildschirm in Google Meet und mit eingeschalteter Webcam. Während Sophie ihre Aufgaben erledigte, schaffte sie es wunderbar ihr Tun und die jeweiligen Hintergründe zu erklären und meine Fragen zu beantworten. Dabei konnte ich sie mit meiner Meinung unterstützen und Input geben.
Einige Todos haben wir gemeinsam bearbeitet, bei anderen haben wir uns aufgeteilt. So planten wir die Meetings (Review, Daily, Refinements, Plannings, Retro), unterstützten die Product Owner, z.B. bei der Produktplanung oder unklaren Storys, schafften Transparenz für das Team zu aktuellen Hindernissen, z.B. durch eine Analyse der aktuellen Refinements. Ich führte eine Retrospektive durch und nahm an einer Futurespective teil. Und natürlich drehte sich unsere Arbeit viel um zuhören, austauschen, Stimmungen beobachten, Konflikte thematisieren und unterstützen.
Die Retro
[MARTINA]: Beim Shadowing habe ich gute Einblicke in den Alltag des Scrum Masters, in den Aufbau einzelner Meetings, zum Scrum-Prozess, zur Teamführung und dem Umgang mit Konflikten erhalten. Dadurch habe ich viele Impulse und Ideen für mein eigenes Projekt mitgenommen und neue Herangehensweisen gelernt. Mein Wissen zu Scrum, meine Vorstellungen, wie ich Scrum leben möchte, konnte ich stetig mit einer realen Situation abgleichen und reflektieren. Diese Art des direkten Feedbacks ist für mich sehr wertvoll, um das Gelernte in meine zukünftigen Projekte mitzunehmen.
Im Bezug auf die Remote-Arbeit ist das Shadowing ebenfalls sehr wichtig gewesen. Remote zu arbeiten sehe ich als eine besondere Herausforderung für einen Scrum Master, der auch ohne analoges Flipchart & Whiteboard moderieren oder zwischenmenschliche Situationen wahrnehmen muss. Hier kann ich im übrigen den Blogbeitrag von Sophie zum Thema 12 Guidelines for a Successful Remote Team sehr empfehlen. Der Beitrag ist ein guter Wegweiser für alle, die mit verteilten Teams arbeiten.
Das Shadowing hat mir gezeigt, dass einige Themenbereiche remote schwieriger zu bewältigen sind: Wie moderiere ich ohne Post-Its und analogem Whiteboard? Wie baue ich Vertrauen und eine Beziehung zu Personen über eine Webcam auf, statt beim informellen Kaffeeklatsch auf dem Gang? Wie nehme ich Stimmungen, Emotionen – eine Meta-Ebene – wahr, wenn eine Vor-Ort-Präsenz ausbleibt? Es war gut, dass mir diese Herausforderungen transparent gemacht wurden und ich Lösungsansätze miterleben konnte.
[SOPHIE]: Seit langer Zeit suche ich nach guten Wegen, Kolleg:innen mitzunehmen und sie für die Arbeit als Agiler Coach oder Scrum Master zu begeistern. Eine große Herausforderung dabei ist, dass es eher selten die Möglichkeit gibt, dass Scrum Master eng miteinander arbeiten können. In den meisten Teams gibt es höchstens einen Scrum Master für ein Team, da wird es schwer sich in der alltäglichen Arbeit etwas abzuschauen. Ich habe mich aus verschiedenen Gründen sehr gefreut, die Option zu bekommen, ein Shadowing mitzumachen:
- Auf der einen Seite ist es für beide Beteiligten eine sehr effiziente und effektive Möglichkeit zu lernen. Es müssen keine extra Vorträge, Vorstellungen oder Anleitungen vorbereitet werden; auch keine Beispiele gesucht oder konstruiert werden. Niemand muss lange überlegen, was wichtig ist und was nicht. Es läuft einfach nebenbei.
- Auf der anderen Seite bietet das Shadowing auch für mich einen wesentlicher Lernfaktor, ich bekomme Feedback, und zwar direkt zu konkreten Situationen; andere Blickwinkel, und manchmal vielleicht auch ganz neue Informationen, die mir neue Möglichkeiten aufzeigen oder mich in meiner Vorgehensweise stärken. Wann hat man denn sonst so eine Chance?
Ich will es nicht verheimlichen, natürlich ist es auch aufwändig und es kostet Energie sich ständig zu erklären und die Gedanken im Kopf immer transparent zu machen. Aber meine Erfahrung zeigt, dass die Kolleg:innen, die bei mir Shadowing gemacht haben, mir immer eine Menge zurückgeben. Für mich ist das Shadowing ein Vorgehen, das ich immer wieder fördern werde, da ich glaube, dass jeder Beteiligte daran nur gewinnen kann.
Unser Fazit
Wir haben es getestet und empfehlen: Probiert Shadowing bei euch aus! Die Umsetzung mag erstmal zeitaufwändig klingen, aber die Investition lohnt sich für beide Seiten. In den meisten Fällen reicht auch schon eine Begleitung von zwei bis maximal vier Wochen aus. Dieser Zeitraum ermöglicht einen guten Einblick in den Berufsalltag über mindestens einen Sprint hinweg und der Begleiter ist nicht zu lange im eigenen Projekt eingeschränkt.
Wir sehen das Shadowing besonders geeignet für:
- Scrum Master:innen, die neu in das Berufsfeld oder ihr Unternehmen einsteigen. Das Shadowing bietet viel Potenzial, den Berufsalltag zu erfahren und einen Wissensaustausch sowie direktes Feedback zu ermöglichen.
- Agile Coaches, die andere und neue Ansätze erleben wollen. Kontinuierliches Lernen also: ein Thema, dass wir ständig einfordern und selbst nicht vergessen sollten.
- Erfahrene Scrum Master:innen. Immer wenn du denkst, es ist mal wieder Zeit etwas zu verändern – warum nicht ein paar Tage lang neue Einblicke bei einer/m Kolleg:in sammeln?
Diesen Tipp geben wir euch für das Shadowing mit: Wechselt euch ab! Werft den Schatten und werdet zum Schatten. Scheut euch nicht davor, eure Aufgaben abzugeben und den Blick auf andere Herangehensweisen zu werfen. Denn nichts bringt uns mehr weiter, als hin und wieder aus unseren bekannten Mustern auszubrechen.